Man stirbt nur dreimal

Man stirbt nur dreimal

Von Schmitz, Gregor Peter und Wolf, Martin

Vor einem Jahr töteten US-Spezialkräfte Osama Bin Laden. Jetzt werden gleich zwei Spielfilme über die Jagd auf den Qaida-Chef gedreht, von zwei einst verbündeten Oscar-Preisträgern. Die Filme sorgen für Aufregung im Präsidentschaftswahlkampf.

Osama Bin Laden braucht erst mal einen Kaffee. Er sitzt auf einem Klappstuhl unter einem Heizstrahler, einen Pappbecher in der Hand, über seinem weißen Gewand trägt er eine dunkle Daunenjacke. Osamas Gesicht unter dem weißen Turban sieht müde aus, er ist an diesem Abend schon zweimal erschossen worden. Gleich muss er wieder rüber in das Haus, das zum Verwechseln jenem Bau in Abbottabad in Pakistan ähnelt, der vor einem Jahr plötzlich weltberühmt wurde als Osamas letztes Versteck.

Aber dies hier ist nicht Pakistan, das Haus ist eine Kulisse, und streng genommen ist der Mann auch nicht Osama Bin Laden, obwohl ihn alle hier so nennen. "Kann mal jemand Osama holen", "War Osama schon in der Maske?", "Wo sind die Blutbeutel für Osama?", solche Sätze fallen oft an diesem Abend bei den Dreharbeiten zu "Code Name: Geronimo", einem Spielfilm über die Jagd auf den Qaida-Führer.

"Code Name: Geronimo" wird gedreht in Santa Fe, der Hauptstadt des US-Bundesstaats New Mexico. Die umliegenden Berge, einst Inspiration für die Malerin Georgia O'Keeffe, doubeln den Hindukusch, ein Hangar des örtlichen Flughafens dient als der afghanische US-Stützpunkt Bagram. Und der Mann, der jetzt Bin Laden spielt, trägt Dreadlocks unter seinem Turban und arbeitet sonst als Tennislehrer.

In der Nacht zum 2. Mai 2011 wurde Osama Bin Laden - nach allem, was man weiß: der echte - in seinem Haus in Abbottabad von einem Spezialkommando der Navy Seals erschossen. 23 Navy Seals, ein Dolmetscher und ein Schäferhund namens Cairo waren mit zwei Hubschraubern von Afghanistan aus unbemerkt nach Pakistan geflogen und hatten Amerikas Staatsfeind Nummer eins schließlich in seinem Schlafzimmer gestellt. Die Leiche Bin Ladens nahmen die Seals in einem Plastiksack mit. Zurück in Abbottabad blieben drei Witwen, mehrere Kinder sowie einer der beiden US-Hubschrauber; er war bei der Landung abgestürzt.

Ein paar Stunden später trat in Washington Präsident Barack Obama vor die Kameras, um den bisher größten Erfolg seiner Amtszeit zu verkünden. "Die Gerechtigkeit hat gesiegt", sagte Obama. Vor dem Weißen Haus feierten Hunderte Amerikaner den Tod Bin Ladens, es war eine Stimmung wie beim Endspiel des Super Bowl.

Ein geheimnisvoller, scheinbar unbesiegbarer Feind, der am Ende von tapferen Amerikanern zur Strecke gebracht wird, das ist eine Geschichte wie für Hollywood erfunden. Der Stoff ist so gut, dass zurzeit gleich zwei Spielfilme darüber gedreht werden, "Code Name: Geronimo" und "Zero Dark Thirty".

Es ist ein Wettkampf um den besseren Film, um den früheren Kinostart, aber

auch um die Deutungshoheit über Bin Ladens Ende. Weil außer der US-Regierung, den Geheimdienstchefs und den beteiligten Navy Seals niemand weiß, wie Bin Laden wirklich starb, schreibt jetzt Hollywood Geschichte, die Terroristenjagd als Thriller.

Der Regisseur von "Code Name: Geronimo" heißt John Stockwell, 51. Er hat in Hollywood als Schauspieler angefangen, eine seiner ersten Rollen war in "Top Gun" (1986), er spielte einen Kampfjet-Piloten mit Höhenkoller, Tom Cruise musste ihn damals retten. Für "Code Name: Geronimo" heuerte Stockwell keine Stars an, sondern Charakterdarsteller wie William Fichtner ("The Dark Knight") als CIA-Agent und Robert Knepper ("Prison Break") als Anführer der Navy Seals. Die treibende Kraft hinter dem Projekt ist der Produzent und Oscar-Preisträger Nicolas Chartier, 37, ein Franzose, der seit Jahren in Hollywood arbeitet, mal mit Bruce Willis, mal mit Robert Redford und dem jungen "Transformers"-Star Shia LaBeouf.

"Zero Dark Thirty", das ist der Bin-Laden-Film der Regisseurin Kathryn Bigelow ("Blue Steel"), 60, die gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten, dem Drehbuchautor Mark Boal, 38, seit Jahren an einem Skript herumgedoktert hatte. Aber das Projekt kam lange nicht recht vom Fleck, unter anderem deshalb, weil ihnen das Ende der Geschichte fehlte. Bigelow drehte erst einen anderen Kriegsfilm, "Tödliches Kommando - The Hurt Locker", es ging um amerikanische Bombenentschärfer im Irak, ein kleines realistisches Meisterwerk, das im März 2010 mit sechs Oscars ausgezeichnet wurde, darunter als bester Film und für die beste Regie.

Ironie der Geschichte: Einer der Produzenten von "The Hurt Locker" war ausgerechnet jener Nicolas Chartier, der Bigelow jetzt in Sachen Bin Laden Konkurrenz macht.

Chartier verliert nicht gern. Vor der Oscar-Verleihung 2010 hatte er eine Mail an Mitglieder der Academy verschickt, die über die Oscars abstimmen, er forderte sie darin auf, für seine Produktion zu votieren und nicht für "diesen 500-Millionen-Dollar-Film". Gemeint war "Avatar", James Camerons 3-D-Spektakel, der Favorit und große Konkurrent von "The Hurt Locker". Zur Strafe für diese "ethische Entgleisung" wurde Chartier von der Teilnahme an der Oscar-Verleihung ausgeschlossen. Seinen Oscar musste er sich am Tag nach der Gala im Büro der Academy abholen. "The Hurt Locker" war Chartiers erster Film als selbständiger Produzent.

"No hard feelings", sagt Chartier heute, er lächelt, wenn er an den bisher größten Triumph seiner Karriere denkt, der zugleich seine größte Schmach war. Chartier steht vor der Kulisse des Bin-Laden-Hauses in Santa Fe, er reist nicht oft an Filmsets, "ich kenne ja das Drehbuch, es ist nicht gerade Shakespeare", aber bei "Code Name: Geronimo", einer Produktion seiner Firma Voltage Pictures, macht er eine Ausnahme. Er hat eigenes Geld in den Film investiert, "von Aktien verstehe ich nichts".

Warum Kathryn Bigelow und Nicolas Chartier nicht einen gemeinsamen Bin-Laden-Film machen, darüber mag der Produzent nicht reden. Fest steht, dass sich ihre Wege irgendwann nach der Oscar-Verleihung 2010 trennten.

Am 24. Mai 2011, drei Wochen nach dem Tod Bin Ladens, gab Columbia Pictures, eine Tochterfirma des Sony-Konzerns, per Presseerklärung bekannt, sie werde Bigelows Osama-Film herausbringen. Die Produktion werde gerade vorbereitet, hieß es, "jüngste Ereignisse" würden noch ins Drehbuch eingearbeitet. Produzentin wurde Megan Ellison, die 25-jährige Tochter von Larry Ellison, dem Gründer der Software-Firma Oracle.

Zur selben Zeit, als der Bigelow-Sony-Deal verkündet wurde, war Nicolas Chartier in Cannes, Projekte anschieben, Filme verkaufen, Leute treffen. Er saß beim Dinner mit Kollegen, sie redeten über das Bigelow-Projekt. Einer am Tisch schlug vor, "eher im Scherz", wie Chartier heute sagt, er solle doch seinen eigenen Bin-Laden-Film machen, ohne Bigelow.

Aus dem Witz wurde Ernst. Chartier heuerte einen Drehbuchautor an, einen ehemaligen Praktikanten seiner Produktionsfirma, er verpflichtete John Stockwell als Regisseur, alles ohne Getöse, ohne Pressemitteilung, ohne ein großes Studio im Rücken, das die Rechnungen zahlt.

"Wir sind die Underdogs", sagt Chartier, so wie "The Hurt Locker" der Underdog gewesen sei, "verglichen mit ,Green Zone'", dem Irak-Krieg-Film mit Matt Damon. Der Vergleich ist ein wenig vergiftet, denn was Chartier nicht sagt: "Green Zone", 100 Millionen Dollar teuer, war ein Riesenflop.

Die Schlagzeilen jedenfalls bestimmt Bigelows Projekt "Zero Dark Thirty". Geplant sei eine originalgetreue Rekonstruktion der Bin-Laden-Tötung, hieß es, der Film solle kurz vor den US-Präsidentschaftswahlen im November 2012 in die Kinos kommen.

Vielleicht etwas zu originalgetreu. Im August 2011 beschrieb die "New York Times"-Kolumnistin Maureen Dowd, wie Bigelows Drehbuchautor Boal Beamte im Weißen Haus und im Pentagon traf, um Informationen über die streng vertrauliche Kommandosache zu sammeln - und außerdem an einer CIA-Zeremonie zu Ehren der beteiligten Seals teilnahm, was Militärvertreter pikierte. "Die Obama-Regierung, die mehr Menschen wegen Geheimnisverrats ins Gefängnis zu bringen versucht hat als die Bush-Regierung, gewährt Filmemachern Top-Zugang zur geheimsten US-Militärmission der Geschichte", wunderte sich Dowd.

Warum gerade Mark Boal? Obamas Berater erhofften sich von Bigelows und Boals Film wohl einen Imageschub für den Wahlkampf, vermutete Dowd. Prompt moserte die Opposition in Washington: Plauderten Obamas Helfer etwa Details über die Geheimaktion aus, um dessen Entscheidung in positives Licht zu tauchen? Sei nicht verdächtig, dass "Zero Dark Thirty" kurz vor dem Wahltag in die Kinos kommen solle? Noch dazu finanziert vom Filmstudio Sony, dessen Chef zu den Top-Spendern der Demokraten gehört?

Peter King, republikanischer Vorsitzender des Heimatschutz-Ausschusses im US-Repräsentantenhaus und als Krawallmacher bekannter Konservativer, sah eine Chance, den Bin-Laden-Triumph in eine Niederlage für Obama zu verwandeln. Er verfasste einen Brief an die Generalinspekteure von CIA und Pentagon. Darin zitierte King Ex-Verteidigungsminister Robert Gates ("Zu viele Leute reden über den Bin-Laden-Einsatz") und sagte, "die Lecks nach der erfolgreichen Mission haben die Helden des Einsatzes sowie ihre Familie gefährdet".

King forderte eine "umfassende Untersuchung" des vermeintlichen Geheimnisverrats in Obamas Umfeld. Nicht ohne Erfolg: Die CIA hat mittlerweile angekündigt, ihre Leitlinien zu Anfragen der Unterhaltungsindustrie zu überarbeiten. Das Pentagon meldete den Beginn einer offiziellen Untersuchung in Sachen Bigelow.

Rasche Ergebnisse sind nicht zu erwarten. "Die Untersuchung dauert an, und jede Information über ihren Zeitrahmen wäre voreilig", sagt eine Vertreterin des Pentagon. Das Weiße Haus hat bereits jede Schuld von sich gewiesen. "Wir veröffentlichen niemals vertrauliche Informationen", sagt Jay Carney, Obamas Pressesprecher.

Auch Bigelow und Boal versuchen, die Debatte zu entschärfen. In einer schriftlichen Stellungnahme betonten sie, ihr Film drehe sich um die jahrelange gefährliche Jagd nach Bin Laden, die von US-Beamten aus beiden politischen Lagern vorangetrieben worden sei. "Dies war ein amerikanischer Triumph, heldenhaft und überparteilich", schrieben Bigelow und Boal. "Es gibt keinerlei Grund anzunehmen, dass unser Film diesen gewaltigen Sieg in irgendeiner anderen Form darstellen wird." Interviews lehnt Bigelow ab, sie habe "leider im Moment keine Zeit".

Die Regisseurin hat inzwischen mit ihren Dreharbeiten begonnen, unter fast ebenso konspirativen Umständen wie die echte Jagd auf Bin Laden. Außer ein paar Darstellernamen, darunter Jessica Chastain ("The Tree of Life") und Edgar Ramírez ("Carlos - Der Schakal"), drang lange nichts nach außen. Bloß keine politischen Debatten mehr! Der US-Filmstart wurde demonstrantiv verschoben, auf Mitte Dezember, also nach den Wahlen.

Die Deeskalationsstrategie funktionierte, bis Bigelow im März in der Stadt Chandigarh im Norden Indiens drehen wollte. Die Szenen sollten in Pakistan spielen, die Set-Designer hatten grün-weiße pakistanische Fahnen gehisst und Schilder in Pakistans Landessprache Urdu aufgehängt. Eine Provokation für radikale indische Hindus, die Pakistan fast ebenso inbrünstig hassen, wie einst Bin Laden die USA verachtete. Es gab gewalttätige Proteste, Demonstranten stürmten das Set, Crewmitglieder mussten sich in Sicherheit bringen.

Auch Chartiers Team hatte ursprünglich vor, ein paar Szenen in Indien zu drehen, aber am Ende blieb man in Santa Fe. Der Nachbau des Bin-Laden-Hauses steht, 20 Kilometer südwestlich vom Stadtzentrum, auf dem Gelände des Staatsgefängnisses von New Mexico, in jenem Teil des Areals, der nach einer Knastrevolte mit 33 Toten im Jahr 1980 geräumt worden war. Der Original-Gefängniszaun, fünf Meter hoch mit Stacheldrahtkrone, dient jetzt als Kulisse.

Das Auto, das dort vor dem Bin-Laden-Haus parkt, hat ein pakistanisches Nummernschild, Bin Ladens Familienmitglieder werden überwiegend gespielt von Exil-Irakern, die nach New Mexico ausgewandert sind. Eine Dolmetscherin hilft dem Regisseur; ihre Überredungskünste sind gefragt, als sich eine der muslimischen Frauen für die Todesszene neben den Osama-Darsteller ins Bett legen soll. Die Schauspieler, die die Navy Seals verkörpern, stürmen vorbei, Gewehre im Anschlag, kleine Taschenlampen am Lauf, Sig-Sauer-Pistolen an den Oberschenkeln. Über Stunden geht das so, Navy Seals vor, Navy Seals zurück, Kamera läuft, Blut ab, "und die Leiche hält bitte kurz die Luft an".

"Wir tun nicht so, als wüssten wir genau, was passiert ist", sagt Produzent Chartier. Osamas Ende, wie es hier inszeniert wird - er greift zur Kalaschnikow neben seinem Bett, der Schuss eines Seals trifft ihn in die Stirn -, sei nur eine denkbare Version. Das Drehbuch "beruht überwiegend auf Zeitungsartikeln". Keine Quellen im Weißen Haus, keine Zusammenarbeit mit dem Pentagon, kein Ärger. Der "Black Hawk"-Hubschrauber, mit dem später in der Nacht die Landung der Navy Seals gedreht wird, gehört einem Privatmann.

"Wir machen keine Propaganda für die USA, das funktioniert heutzutage nicht mehr", sagt Chartier, "ich will den Film ja auch in andere Länder verkaufen." In Deutschland hat er bereits einen Verleih gefunden; wann "Code Name: Geronimo" starten wird, steht aber noch nicht fest. Weitere Verkäufe sind beim diesjährigen Festival von Cannes geplant. Möglicherweise kommt Chartiers Film, anders als Bigelows Konkurrenzprojekt, vor den Präsidentschaftswahlen in die amerikanischen Kinos.

Wahlkampfhilfe für Obama? Chartier, der Franzose, zuckt mit den Schultern. "Ich wähle nicht in diesem Land."